Modul 1 AVIDYA
Das erste Klesha, mit dem wir uns in dieser Woche beschäftigen möchten, heißt auf Sanskrit (der Sprache, in der die alten Yogatexte verfasst wurden) AVIDYA. Avidya wird übersetzt mit "Nicht wissen", allerdings nicht im Sinne von Unwissenheit, sondern im Sinne von Unbewusstheit. Im lateinischen Wort videre finden wir den gleichen Wortstamm. Videre heißt sehen, a- davor ist die Verneinung. Avidya meint also, etwas "nicht zu sehen" - oder "glauben, zu wissen".
Und das wird von Patanjali als "Mutter aller Kleshas" oder das Hauptübel beschrieben. Wir glauben, zu wissen. Und dabei ist uns oft nicht bewusst, dass wir immer in unserer eigenen Wahrheit leben, die oft für die anderen Menschen nicht nachvollziehbar ist. Wir glauben, zu wissen, was gut und richtig ist, wir haben uns über die Jahre ein eigenes Wertesystem zurechtgelegt, wir haben unsere Vorstellungen, Konzepte, die wir irgendwann festlegen und dann nicht mehr hinterfragen. Hier schleppen wir sehr viel mit uns mit, was möglicherweise gar keine Gültigkeit mehr für uns hat. Oft passiert dies ganz unbewusst. Wir treffen einmal eine Entscheidung, wählen einen Weg, eine bestimmte Sache zu sehen, zu machen, zu erleben, gewöhnen uns daran und bleiben dabei, obwohl es vielleicht inzwischen schon längst eine für uns stimmigere Sichtweise oder einen sinnvolleren Weg gäbe.
Und das möchte dieses Klesha uns lehren. Nicht an festgefahrenen Meinungen festzuhalten, nicht glauben, zu wissen wie etwas funktioniert, sondern offen zu bleiben, immer wieder hinzuschauen und neugierig zu bleiben. Denn immer wenn wir im Einfluss dieses Kleshas sind, verlieren wir die Verbindung zu uns selbst und auch die zur Welt rund um uns herum. Wenn uns dieses Hindernis bewusst ist, wenn wir wissen, dass Avidya ein Hindernis auf dem Weg zu unserem inneren Glück ist, dass wir uns damit immer wieder selbst im Weg stehen, können wir beginnen, zu beobachten. Und wenn wir beginnen, zu beobachten werden wir sehr viel bewusster für diese Fallen des Avidya, dieses "glauben, zu wissen" auf der einen Seite und das Vergessen, wer wir sind, wie wir verbunden und Teil von etwas ganz wunderbaren, großen Ganzen sind, auf der anderen Seite.
(Mehr Infos und Hintergründe zu diesem Klesha findest Du im Avidya Text.)
Patanjalis Tipp zum Umgang mit den Kleshas ist: schau es dir an, mach es dir bewusst und setz dich hin um durch Meditation deinen Geist leer werden zu lassen. Zu Patanjalis Zeit war Yoga noch eine rein geistige Disziplin. Die einzige Asana (Körperposition) war der aufrechte Sitz, eine Meditationshaltung. Und so ist für Patanjali auch Meditation das Mittel der Wahl, um mehr Klarheit im Umgang mit den Kleshas, "den leidbringenden Anhaftungen des Geistes" zu finden. Das gilt für unseren Geist heute ebenso wir vor 2500 Jahren, wir können neben der Meditation aber auch das körperliche Yoga mit auf diesen Weg nehmen.
Ich möchte dich einladen, heute und in dieser Woche besonders diesen Aspekt von Avidya im Fokus zu haben. Hinzuschauen. Zu sehen (videre) und dabei aber nicht zu werten.